Tuesday, 04.06.2019 - Stacja Muranów, Warschau

30 Jahre der politischen Transformation in Polen – eine kritische Perspektive

Der 30. Jahrestag der ersten freien Wahlen in Polen kann gleichermaßen als symbolisches Ende des Kommunismus im Land an der Weichsel gesehen werden. Allerdings ist es gleichermaßen wichtig, sich darüber im Klaren zu sein, was während der Übergangszeit der 3. Polnischen Republik weniger gut gelaufen ist, was hätte besser gemacht werden können und was heutzutage noch zu regeln ist, um eine funktionierende Demokratie in Polen zu ermöglichen. Mit diesen und vielen weiteren Fragen beschäftigte sich die abendliche Diskussion des Warschauer Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung (vertreten durch Dominika Pyzowska) in Kooperation mit dem Ignacy-Daszyński-Zentrums zum Thema "30 Jahre nach der politischen Transformation in Polen - eine kritische Perspektive", die am 04. Juni 2019 in der „Stacja Muranów“ stattfand.

An der Debatte beteiligten sich:

 

·         Estera Flieger, Redakteurin der polnischen Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“;

·         Dr. Piotr Ostrowski, stellvertretender Vorsitzender des Gesamtpolnischen Gewerkschaftsverbands (OPZZ);

·         Agata Szczęśniak, Redakteurin des Online-Magazin „OKO.press“ sowie

·         Rafał Woś, Redakteur des polnischen Wochenmagazins „Tygodnik Powszechny“.

 

Durch den Abend führte Dr. Bartosz Rydliński vom Ignacy-Daszyński-Zentrum Warschau, wiederkehrender Kooperationspartner des Warschauer FES-Büros.

 

Für die Diskussionsrunde wurden im Vorfeld vier Themenbereiche ausgewählt, zu denen jeweils ein Podiumsgast Stellung beziehen konnte: Arbeits- und Beschäftigungsverhältnisse, die Rolle der Gewerkschaften, die Entwicklung der Frauenrechtsbewegung und die  Geschichtspolitik. Im Anschluss konnte auch das Publikum in die Debatte einsteigen und die Ausführungen der Panelisten kommentieren sowie weiterführende Fragen stellen. 

Agata Szczęśniak eröffnete die Diskussion mit ihrer Darstellung der Entwicklung der Frauenrechtsbewegung in der 3. Polnischen Republik. Sie berichte von ihren persönlichen Erlebnissen währen der 1990er Jahre, den mühsamen Konflikt mit Kirchenorganisationen um die Rechtslage der Abtreibung. Auf den Vorwurf, dass der runde Tisch vor 30 Jahren eine reine Männerveranstaltung gewesen sei, entgegnete sie, dass auch zahlreiche Frauen an der unmittelbaren Vor- und Nachbereitung der politischen Verhandlungen beteiligt gewesen seien. Insgesamt habe sie die Jahre nach den ersten freien Wahlen als eine von Engagement und Entschlossenheit geprägte Phase erlebt.  

Über die Fortentwicklung von Arbeits- und Beschäftigungsverhältnissen äußerte sich Rafał Woś. In den letzten Jahrzehnten beobachtete er eine zunehmende Kommodifizierung der Arbeit, was er auf die Einführung eines liberal geprägten Wirtschaftssystems in der Dritten Polnischen Republik zurückschließen ließ. Aus progressiver Sicht wirke sich dieser Prozess des „Zur-Ware-Werdens“ (utowarowienie) menschlicher Aktivität negativ auf den Zusammenhalt in der polnischen Gesellschaft aus. Arbeit diene in erster Linie zur Sicherung des individuellen sowie familiären Unterhalts. Die Trennung von Arbeit und Kapital halte er für ein fundamentales Element einer politischen Gesellschaft , die angesichts globaler Finanz- und Wirtschaftskrisen auch weiterhin beibehalten werden sollte. In diesem Kontext hob er die Rolle der Gewerkschaften als geeignete Vermittler zwischen Arbeitgeber_innen und Arbeitnehmer_innen, aber auch gegenüber des Staats hervor. Ebenso sprach sich Woś für die Notwendigkeit einer positive Neubesetzung der Begriffe „Nationalstolz“ und „Patriotismus“ aus. Entscheidend hierfür sei es, möglichst vielen gesellschaftlichen Gruppen die Teilnahme am wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt des Landes zu ermöglichen – eine besondere Rolle sprach er hierbei der Frauenbewegung zu, die er als wichtiges Symbol der Dritten Polnischen Republik ansieht.    

OPZZ-Vertreter Piotr Ostrowski hob zu Beginn seines Redebeitrags hervor, dass die Solidarność-Gewerkschaft heutzutage die radikalste Position gegenüber des Kapitalismus beziehen würde. Die Bedürfnisse von Arbeitnehmer_innen sehe er als Kernelement gewerkschaftlicher Arbeit, die nicht vernachlässigt werden dürften. Im Folgenden berichtete er über den Entstehungskontext des OPZZ Mitte der 1980er-Jahre und die Differenzen in der inhaltlichen wie strukturellen Ausrichtung des Gewerkschaftsverbandes im Vergleich zur Solidarność. Ostrowski wies ebenso darauf hin, dass die Einführung des neoliberalen Wirtschaftssystems in Polen und die Verschiebung von Beschäftigungsverhältnissen aus dem Industrie- in den Dienstleistungssektor zu einem spürbaren Bedeutungsverlust der gewerkschaftlichen Arbeit geführt hätten.  

Zum Abschluss schilderte Estera Flieger die anhaltende Debatte um die Verwendung des Terminus „polityka historyczna“ (Geschichtspolitik). Angesichts der Vorgehensweise der aktuellen Regierung, geschichtliche Themen weitläufig für ihre eigenen politischen Zwecke auszunutzen, stelle sich die Frage, ob die aktive Beschäftigung mit Zeitgeschichte im öffentlichen Raum und in den Medien künftig ausgeweitet oder eingegrenzt werden müsse. Bereits vor der Regierungszeit der PiS sei Geschichtspolitik ein gesamtgesellschaftliches Thema gewesen, das aktiv diskutiert wurde. Die Einrichtung von Gedenktagen, die Umbenennung von (kommunistischen) Straßennahmen und die Gründung des Instituts für Nationales Gedenken (Instytut Pamięci Narodowej) sowie des Museums des 2. Weltkrieges in Gdańsk seien nur einige Beispiele. In diesem Kontext kritisierte Flieger aber auch die Vorgehensweise während der Präsidentschaft Bronisławs Komorowskis, Geschichtspolitik als Mittel zur Unterhaltung zu nutzen und seine Initiative zur Einführung des Nationalen Gedenktages für verstoßene Soldaten (Narodowy Dzień Pamięci „Żołnierzy Wyklętych“), um damit rechte Wählergruppen zu anzusprechen. In der heutigen Zeit sei es besorgniserregend, dass die Entscheidungshoheit über die geschichtlichen Narrative weniger bei den Historikern, dafür aber zunehmend bei den führenden Politikern zu finden sei. Hier müsse künftig wieder ein stärkeres Umdenken erfolgen.

Die anschließende Diskussionsrunde mit dem anwesenden Publikum war geprägt durch eine hitzige, aber dennoch sachliche Auseinandersetzung mit den Impulsvorträgen der Podiumsgäste. So bemängelten einige der Gäste die Verwendung des semantisch stark aufgeladenen Terminus „polityka historyczna“ (zu Deutsch: Geschichtspolitik) und deuteten darauf hin, dass die Verwendung von „historia publiczna (zu Deutsch: öffentliche Geschichte) in der öffentlichen Debatte angemessener erscheinen würde.

Eine weitere Kontroverse entstand um die Auswahl der vier Themenbereiche, die im Vorfeld für die Bewerbung der Debatte angekündigt worden sind. Nach Ansicht vieler Gäste sei es unzureichend, sich lediglich auf den Arbeitskontext und die Instrumentalisierungsversuche von Zeitgeschichte zu konzentrieren, da es im Übrigen einige weitere Bereiche gäbe, die in der Zeit der politischen Transformation in Polen zu erheblichen Schwierigkeiten und teils auch Frustrationen geführt hätten. Hier wurden unter anderem Mängel im Bildungs- und Erziehungssektor, die Problematik bezahlbaren Wohnraums sowie ein unzureichendes Gesundheits- und Rentensystem als Beispiele genannt. Die Organisatoren wiesen in der Folge darauf hin, dass aus organisatorischen Gründen Fallbeispiele ausgesucht worden seien, zu denen sich die anwesenden Podiumsteilnehmer_innen aufgrund ihrer Lebensbiographie oder ihrer aktuellen beruflichen Aktivitäten adäquat äußern konnten.

 

Für künftige Aktivitäten wurde daher angeregt, weitere Debatten zu veranstalten, die den Fokus auf ebenfalls bedeutende Themenfelder, Herausforderungen und Perspektiven der Dritten Polnischen Republik setzen.

 

Verfasst von: Mateusz Weis-Banaszczyk

Redaktion: Dominika Pyzowska


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